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photography

the magical misery tour

Im Dezember 1985 feiert Martin Kippenberger eine wilde Abschiedsparty in der Kölner Disco „Alter Wartesaal“. Es ist die Disco in der ich Martin vor wenigen Monaten kennengelernt habe. „Kippi komm bitte zurück“ steht auf einem grossen Bild mit Zuckerhut. Davor spielt eine Band. Den Morgen danach bringe ich ihn zum Flughafen Frankfurt. Martin fliegt nach Brasilien.

Die ersten Wochen der „Magical Misery Tour“ verbringt er mit Albert und Freunden in Rio de Janeiro. Im Februar 1986 fliege ich nach Salvador. Martin erwartet mich schon im Bahia Othon Palace, einem grossen *****Hotel mit Pool und Strand. Er hat mich eingeladen ihn als Fotografin und Assistentin zu begleiten. Es ist meine erste grosse Reise ausserhalb von Europa und gleichzeitig meine grösste fotografische Herausforderung bis dahin.

In Salvador mieten wir uns für mehrere Tage ein Auto. Martin hat keinen Führerschein und ich fahre gerne. Wir cruisen durch die Vorstädte von Salvador und entlang der Küstenstrasse. Neben der Gangschaltung liegt, in ein Handtuch gewickelt, meine Unterwasserkamera Nikonos 4-A mit einem 35`Objektiv. Wir fangen mit der Arbeit an, stoppen an verlassenen Häusern, an Strandpromenaden, Ruinen, merkwürdigen Gebäuden und an öffentlichen Skulpturen. Martin gibt den Skulpturen neue Namen oder signiert sie mit seinem Zeichen, einem Viereck in dem er den Buchstaben K und die Jahreszahl 86 malt. Ich fotografiere ihn in verschiedenen Posen vor moderner Architektur und vor diversen Kunstwerken. Ich dokumentiere seine Performances, wie er sich an eine riesige Reklamebierflasche taped oder die Hose vor einem Strandhäuschen, das ausschaut wie eine Einzelzelle, runterlässt.

Wir halten an einer Tankstelle, die Martin gleich komplett kaufen will und auf den Namen „Tankstelle Martin Bormann“ tauft. Er erläutert mir, dass Martin Bormann ein ranghoher Nazi gewesen sei der nach Südamerika entwischt ist und nun eine „gas station“ irgendwo in Brasilien betreibt. Martin mag die zwei Zapfsäulen weil man dort Alcool tanken kann. Er entwirft Umbaupläne für die Tankstelle, die er mit Kreide auf den Boden zeichnet. An einer der Aussenwände kritzelt er das provisorisches Logo „TMB“. Die diversen Tankwarte und Schrauber finden uns und unser Interesse an der heruntergekommenen Tankstelle amüsant.

Wir trinken viel. Martin sammelt die Rechnungen als Zeichenpapier. Auch streiten wir oft. So beginnen wir mit dem Mau-Mau Kartenspiel Mail-Art-Projekt. Wer spielt streitet nicht. Wir zocken endlose Abende und verschicken die Ergebnisse an Galeristen, Sammlerpaare, KunstvereinleiterInnen, MuseumsdirektorInnen, Artists und an Freunde. Martin ist sehr gut organisiert mit all den Adressen der Kunstszene. Jede Mau-Mau Runde besteht aus drei Spielen. Der Spielstand wird buchhalterisch notiert und dann einer vorher bestimmten Person per Postkarte zugeschickt. Dafür haben wir einen grossen Stempel anfertigen lassen:. m.k. versus u.b., mit Tabellen für den Punktestand. Beim Stempelmacher gibt es leider einen kleinen Übertragungsfehler. Aus einigen u´s werden v´s. Und so steht auf dem Stempel „Hier ist es auch sehr warm und hier sind die neusten Mav Mav Ergebnisse“ - macht nix!

Martin hat die Nase voll und auch etwas Schiss vor den Banditen in Salvador, die ihm aber nur seine Durchfalltabletten entwenden. Trotzdem würde ich gerne etwas von dem berühmten südamerikanischen Kokain probieren. Es ist gar nicht so einfach an etwas zu kommen. Wir kaufen in einer ziemlich schmuddeligen Kaschemme ein undefinierbares Zeugs. Martin ist entsetzt das ich es trotzdem probiere. Die Wirkung ist auch etwas anders als erhofft...

Ich spreche kein Wort Portugiesisch, Martin schon etwas mehr. Es ist grossartig zu beobachten wie er sich „mit Händen und Füssen“ und auf allen möglichen Sprachen verständigt. Besonders nett ist der Abend an dem er einem jungen Strassenhändler gleich eine ganze Kiste „Erdnussjoints“ abkauft. Der kleine Mann bekommt eine Lehrstunde in Verhandelungstechnik und Zahlenmultiplikation dazu. Alles brav durchexerziert, gibt es zur Belohnung eine Coca Cola obendrauf.

Dann geht es nochmal weiter. Wir kaufen uns eine art „Interail Flug Ticket“ und fliegen durch Brasilien. Unsere vier eher zufälligen Stationen sind: Maceió, Recife, Brasilia und Manaus. In Brasilia sind wir leider nur eine Nacht. Am abenteuerlichen Amazonas in Manaus verweilen wir mehrere Tage. Dort kaufen wir massenweise präparierte Piranhas, besuchen die Oper, den Regenwald und feiern Martins 33ten Geburtstag in irgendeiner lokalen Tanzbar. Das Fest ist ein grosser Spass. Martin tanzt Rock´n´Roll mit den Mädchen und singt Lieder mit der Band. Ich singe ihm ein furchtbar schiefes Geburtstagsständchen. Wie peinlich!

Die Zeit vergeht schnell. Schon fliege ich wieder mit Sack und Pack und präparierten Fischen im Gepäck nach Hause. Aus Versehen hat sich die komplette Reisekasse, versteckt in einer Casettenhülle, in meinen Koffer geschmuggelt. Martin ist sauer. Seine Galerie muss ihm das Geld schicken. Ein paar Tage später kommt er planmässig und gut gelaunt zurück nach Köln.

Im April 1986 stellen wir gemeinsam in der Stuttgarter Galerie Achim Kubinski aus. Der Titel der Ausstellung lautet „Du kommst auch noch in Mode - Dialog mit der Jugend II“. Martin zeigt grosse gerahmte Arbeiten und hängt ein „Magical Misery Tour“ T-shirt auf. Ich zeige s/w Fotos aus Brasilien, sowie Körperstudien von Martin die ich vor unserer Reise in Köln fotografiert habe. Martin malt einen riesigen Charly Chaplin über die Tür und auf die Wand. Darüber hängen wir Abzüge der „Tankstelle Martin Bormann“. Danach bringe ich Martin in ein Sanatorium am Bodensee wo er eine vierwöchige Entgiftungskur macht.

Ursula Böckler, im Januar 2016